„Vergeude ein paar Stunden“

Ein Haus für viele Sommer

Manchmal gehe ich nur in die Buchläden, um Bücher anzufassen, um sie zu fühlen. Dann lese ich die Überschrift und wenn dann ein Leineneinband zu der Überschrift passt, dann kann ich eigentlich nicht widerstehen.

Sollte jemals mein Manuskript erscheinen: Ich wünsche mir ein fühlbares Buch. Das ganze Werk ist voller Gefühle, da muss auch das Buch selber schon ein Erlebnis sein. Axel Hackes „Ein Haus für viele Sommer“ schleppe ich seit vier Wochen ständig hin und her. Ich bin lange fertig mit lesen, aber ich sitze auf dem Sofa und streichele es. Als könnte ich, nur in dem ich es anfasse, schon mit Axel vor seiner Cantina sitzen und das Leben im Dorf beobachten. Ich sehe sie alle vor meinem inneren Auge: Die wunderbaren Menschen, die der Autor beschreibt. Und das nur, indem ich über den Buchrücken streiche und meine Augen schließe.

Leinen. Blau wie Himmel und Meer. Goldene Schrift wie der Schein der Sonne. Mitten drauf ein Gemälde von Wind, Wellen und Meer. Ja, dieses Buch ist ein Stück gelebtes Italien. Ein Buch voller Geschichten in einer großen Geschichte. Axel Hacke hinterfragt das Konzept Urlaub, dass hier irgendwie an Bedeutung verliert, weil er eher dort lebt, wo er urlaubt. Für mich war dieses Buch viel zu schnell zu Ende. Nach jedem Kapitel hoffte ich, dass es noch viele Weitere geben würde. Ich legte es absichtlich zu Seite, las nicht weiter, sodass ich jeden Tag ein Stück von Axels Insel mit ins Bett nehmen konnte.

Der Torre, wie er das sehr alte Haus nennt, dass der Vater seiner Frau einst kaufte, scheint eine Art Fossil zu sein. Es trotzt jedem Sturm, hat Kriege und Besetzungen überlebt und beherbergt seit knapp dreißig Jahren Hacke und seine Familie. In allen Ferien fahren sie auf diese Insel, in das Dorf zu ihrem Torre. Jahr für Jahr – immer an den gleichen Ort. Oft wurde ihm die Frage gestellt, ob er nicht einmal auch woanders Urlaub machen möchte? Im Interview mit der ZEIT beantwortet er die Frage so: „Andere jagen um den Globus, ich jage um das Dorf.“ Er habe es immer genossen, dass Land in der Tiefe kennenzulernen, die Sprache, die Olivenbäume, sich mit einem Handwerker unterhalten.

„Die Welt stand mir offen. Aber ich wollte in einem Dorf, vor einer Cantina sitzen und die Zeit verstreichen lassen. (…) Vor ein paar Tagen saßen wir noch mit entfernten Bekannten zusammen . Sie berichteten von ihren Reisen der vergangenen Jahre: die Malediven hätten sie gemacht, die Pazifikküsten hätten sie gemacht, Marokko hätten sie gemacht. Ich hatte hinterher über diesen Ausdruck gelacht, dieses machen. Aber immerhin hatten die Leute doch die Welt gesehen. Oder doch nicht wirklich? Oder doch nur Ziele abgehakt? Ich weiß es nicht.“

Während ich das lese, schweife ich ab. Ich lasse das Buch auf meinen Bauch sinken und denke darüber nach,  was ich schon abgehakt hatte? Welche Länder der Erde ich schon gesehen habe und welche nicht. Welche möchte ich noch sehen? Aber eigentlich weiß ich schon seit einer ganzen Weile, dass ich nur immer ans Meer möchte . An einen Ort, an dem es so warm ist, dass Palmen wachsen und ich mit offenen Schuhen gehen kann. Ein Ort, wo es auch abends noch warm ist und ich beruhigt meine geliebten „Zwei-Teile“ tragen kann. Schlüpper und Kleid.

Wir brauchen alle einen Ort, an dem wir den Alltag Alltag sein lassen können. Einen Ort, an den wir flüchten können und an dem wir nichts tun. Übrigens eine der schwierigsten Aufgaben meines Lebens. Einfach irgendwo nur „sein“. Dabei nicht zu lesen oder zu schreiben oder mindestens ein aufgeschlagenes Notizbuch neben mir. Überall lauern Geschichten. Der Fluch einer jeden Schriftstellerin oder Schriftstellers. Immer denke ich, ob das wohl eine Geschichte wert ist. Manchmal kann ich nicht mal einfach nur am Bahnhof sitzen. Ich beobachte die Leute und denke mir zu jedem etwas aus.

Denn Alltag hinter sich lassen, das ist die hohe Kunst. Bei Axel Hacke beginnt das in dem Moment, wo er die Fähre Richtung Insel betritt. Das sei das Großartige an einer Insel, sagt er, sie liegt mitten im Meer. „So viel Wasser zwischen dem Alltag und mir.“ Das habe ich auch kürzlich erfahren. Der Alltag lässt sich auf einer Insel wunderbar ausblenden, schon beim Ankommen blieb alles hinter mir. Eine Stunde fährt Hacke in dieses andere Dasein, in eine andere Welt, in einen anderen Alltag hinein. Ein Schlüsselmoment, wenn er das Hindernis, das Meer überwindet, und auf der Insel landet.

„Manchmal, wenn ich auf dem Boot liege und mich auf dem Meer treiben lasse, vom Wasser in den Schlaf geschaukelt, manchmal überkommt mich dort draußen eine ungeheure Ruhe. Ich überlasse mich den Wellenelementen wie ein Kind, schließe die Augen, und wenn ich sie später wieder öffne, bin ich, von Wellen und Wind weitergetrieben, nicht mehr da, wo ich eingeschlafen bin. Ruhe. Nichts.“

Ich musste fast weinen, als ich das las und beschloss, das nächste Mal, wenn ich auf (m)eine Insel fahre, Boot zu fahren. Allerdings bin ich längst nicht so heimisch dort, dass ich in einem Bötchen einschlafen könnte.

Axel Hacke nimmt mich mit in sein italienisches Dorf, in die Abenteuer und Tücken des Torre. Ich lerne, wie erfüllend eine Oliven-Ernte sein kann und welche Gefahren von Ziegen ausgehen. Am Ende hat Hacke es fast geschafft, dass ich meinen Alltag zu Hause ausblenden kann. Ich verstehe, was er meint, wenn er schreibt: „Diese Quälteufel sind nie mit mir übers Meer gekommen, nicht auf die Insel. Sie blieben immer zurück.“ Ich wünsche jedem einen solchen Ort und wer ihn nicht hat, dem empfehle ich dieses Buch – und allen anderen auch!

Vergeude ein paar Stunden an diese wunderbare, kleine blaue, fühlbare Lektüre von Axel Hacke. Danach schließe die Augen und tue nichts.

Helen


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„Ein Haus für viele Sommer“ von Axel Hacke ist im Kunstmann Verlag erschienen. Kaufe es in deiner Buchhandlung um die Ecke.

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