Gemeinschaft für 9 Euro

Ein Rausch übers Reisen in bester Gesellschaft

Es war schon recht voll am Ostkreuz, als der RE1 aus Fürstenwalde auf Gleis drei einrollte. Wir stehen in der Sonne, hier ist es leer – die meisten drängeln sich auf den schattigen Plätzen, wir lieben die Hitze. Unser Glück, denn so sind wir die Einzigen, die an dieser Stelle in den Zug steigen. Wir ergattern noch genau drei Sitzplätze, die wir bis Magdeburg nicht verlassen. Je weiter wir in die Stadt hineinfahren, desto voller wird es. Mit nur neun Euro durch Deutschland zu fahren scheint viele anzulocken. Mehr als ich dachte. Und ich frage mich, ob es an Pfingsten oder an den neun Euro liegt. Und ich fühle mich in eine frühere Zeit zurückversetzt, als es noch egal war, ob man im Zug einen Sitzplatz bekommt und wie lange es dauert. Wichtig waren die Menschen um einen herum. Genauso fühlt es sich heute auch an. Ich weiß, wir werden lange unterwegs sein, aber ich habe meine Liebsten dabei und ich habe ein Ziel: Die Kommunion meines Patenkindes. Nun bin ich weder getauft, noch habe ich sonst irgendwie irgendwas mit der Kirche zu tun, aber die Geste ist wichtig, habe ich gehört. Ich bin ja auch nicht die Tante für Gottes Zwecke, sondern die für spezielle Anlässe. So der Plan.

Auch wir sitzen heute nur im Zug, weil es so günstig ist. Normalerweise steigen wir für diese Strecke ins Auto, aber das steht seit Februar vor der Tür und irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, nicht mehr zu fahren. Wir müssten auch erst noch die Reifen wechseln. Das sparen wir uns und nehmen die Bahn. Ganz sicher fahren wir erst wieder im Winter Auto, dann können wir die Winterschuhe auch anlassen. Der ICE braucht für die Strecke nach Gütersloh nur dreieinhalb Stunden. Für uns sagt der Fahrplan 7:44 und viermal umsteigen. Kurz vor Magdeburg werden wir ein bisschen nervös, denn wir sind nicht die Einzigen, die raus wollen, es ist Endstation und unsere Umsteigezeit ist von 40 auf fünf Minuten gesunken. Es gibt einfach zu viele Fahrräder und zu viele, die mitwollen und zu viele, die nicht mehr reinpassen. Einfahrt Magdeburg: Loveparade. Zumindest sieht es genauso aus und ich frage mich, wie wir in mittlerweile nur noch drei Minuten durch diese Massen hindurch, die Treppen hinunter, den Tunnel durchschieben, Treppen wieder hoch und in den Anschlusszug hinein sollen? Das ist kaum vorstellbar, aber es klappt. Schieb, schieb, drück, drück, Füße auf Füßen, wir aneinandergehängt, keiner darf abfallen von unserer Haltekette. Wir rennen die Treppe hoch, nehmen zwei Stufen auf einmal und springen in den Zug. Puh. Geschafft. Bis Braunschweig sitzen wir auf der Treppe. Unser Mädchen findet es cool. „Ist mal was anderes.“ Ich muss lachen, als sie sich sehr lässig mit ihrem Buch auf den Stufen positioniert und denke an mich in ihrem Alter. So etwas hätte ich auch gerne gemacht. Nach dem Zug rennen, ohne Platzreservierung auf den Stufen hocken, nicht wissen, wann man am Ziel ankommt. Abenteuerlich finde ich das bis heute.

Später schicken uns Freunde Bilder und Videos verschiedener Bahnsteige. Ob es bei uns auch so aussieht. Oh ja, schreiben wir zurück. Die erste 9 Euro-Welle – wir sind mitten drin und es bringt uns zusammen. Wir zu dritt als Familie und auch mit anderen. Einen jungen Menschen mit blau-schwarzen Haaren sehen wir bis Gütersloh immer wieder. Mit einem älteren Herren plauschen wir in der Westfalen-Bahn, ihn haben wir auch schon in Berlin gesehen. Gemeinsam stellen wir fest, dass es Richtung Westen immer leerer und sauberer wird. Hier werden wir auch das erste Mal kontrolliert.

Die erste Station nach Magdeburg heißt: Niederndodeleben. Ich muss laut lachen, bin damit allerdings alleine. Die anderen im Zug gucken mich nur grimmig an, als sei ich verrückt geworden. In Doddellebben steigt auch keiner aus und niemand ein. Ich bin also wieder still, wir sind noch zu weit an den grummeligen Berliner*innen dran. Aber ich kann mich schlecht beherrschen, denn die Orte, die wir passieren, sind mir so fremd, dass ich bei Ovelgünne schon wieder lachen muss und unweigerlich an einen grünen Tümpel denke, in dem viele kleine Enten schwimmen. Bei der Ortschaft Wellen sitze ich auf dem Klo und falle fast, als ich die Schaffnerin höre. Es rumpelt, ich schließe für eine Millisekunde die Augen und denke ans Meer. Welch wunderbare Fantasien diese Namen bei mir auslösen. Leute steigen ein und aus, eine Dame murmelt, wie voll es ist und ich denke, dass es auch schon voller war. Hier geht es ja noch. Ich versuche zu lesen, aber ich muss einfach die Menschen beobachten. Ich würde sagen 70 Prozent tragen eine Maske, aber viele sind auch schon ohne unterwegs, obwohl es regelmäßig eine Durchsage zur noch bestehenden Maskenpflicht gibt. Ich ertappe mich dabei, dass auch meine Nase frei liegt.

Kurz vor Braunschweig haben wir schon wieder zehn Minuten Verspätung, aber genug Zeit, um das Gleis zu wechseln und auf die Jagd nach einem Eis zu gehen. Ab hier wird es ruhiger, die Westfalen-Bahn fährt zügig Richtung Porta Westfalica und hält sogar. Ich betrachte das Tor genau, habe ich noch nie gemacht, bisher bin ich immer nur im Auto daran vorbei gerauscht. Mein Mann erzählt, dass er sogar schon einmal dort oben war. Wusste ich gar nicht. (Was man alles übereinander lernt, während solch einer Zugfahrt.) Wir sitzen am Fenster mit Tisch und werden gut gekühlt. Ein bisschen zu viel für meinen Geschmack, denn ich muss Socken und Pulli anziehen. Aber das Zug-Personal hat einen witzigen Schnack und bittet die Passagiere, die für ihr Gepäck nicht auch noch ein 9 Euro Ticket erworben haben, die Sitze freizumachen.

Bad Oeynhausen. Der vorletzte Umstieg. Hier ist es schon sehr ländlich, die Bahn nur noch spärlich belegt. Wir machen einen kleinen Abstecher in die Fußgängerzone, kaufen uns ein regionales Bier. Der Kiosk-Besitzer erzählt uns, dass er direkt neben der Brauerei wohnt: Barre Bier aus Lübbecke. Wir stehen am Bahnsteig, trinken Bier, unser Mädchen Limo und sind so glücklich, nicht im Auto zu sitzen. Angekommen in Gütersloh sind wir beeindruckt vom brachialen Rathaus und fallen ziemlich tief in einen wohlverdienten Schlaf. Das Frühstück ist lecker und die Fahrt mit der Bimmelbahn aufs Dorf zur Kirche ist wunderlich. Obwohl unheimlich viel Platz ist, dürfen keine Radfahrer mehr mitfahren. Wir wundern uns laut, eine Dame schimpft, das sei nur wegen der 9 Euro. Wir sind deswegen überhaupt hier, erwidern wir.

Im Dorf steigen wir aus und kommen das erste Mal in unserem Leben zu einer Kommunion. Wir sitzen weit hinten und wundern uns über die Jungen und Mädchen, die angezogen sind wie Braut und Bräutigam. Um so mehr freue ich mich, dass mein Patenmädchen mit einem fröhlichen Schrei mein Geschenk auspackt, es anzieht und den restlichen Tag nicht mehr ablegt: Ein Bikini mit Palmen. Ich bin stolz, auch wenn die Großeltern vielleicht lieber das weiße Kleid für die Familien-Foto-Wand gehabt hätten .

In der Kirche lerne ich, das Kommunion Gemeinschaft bedeutet und ja, das ist wahr. Wenn ich auch mit der kirchlichen Zeremonie wirklich nichts am Hut habe und mir all das mehr als fremd ist, so fühle ich mich doch in bester Gemeinschaft. Wir lernen wunderbare Menschen kennen, führen schönste Gespräche und mein Mann findet Gleichgesinnte für seine Sauna-Liebe. Es wird geschwitzt und geschwoft und am Ende schreibe ich schwülstiges Zeugs ins Gästebuch: „Zwei von nebenan – und doch von so weit her, aber am richtigen Tisch mit tollen Menschen kommen Kulturen zusammen. Kommunion heißt und ist Gemeinschaft. Danke, liebes Patenkind, dass du uns zusammengebracht hast.“

Ich bin sehr selig, als wir auf dem Heimweg familiengemeinschaftlich eine Illustration zeichnen und habe das sichere Gefühl, dass wir mit dieser Zugfahrt als Familie zusammengewachsen sind. Wir beschließen, den restlichen Sommer unser Auto stehen zu lassen und es erst wieder im Winter, wenn es auf die Piste geht, zu bewegen.

Fahrt Bahn!
Kauft euch ein 9 Euro Ticket!
Bleibt leicht&lebendig,
Helen


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Die Illustration ist eine familiäre Zusammenarbeit

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„Happy wife, happy life“

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