Tilli stellt sich ihrem Schweinehund

Ich kannte Tillis Schweinehund schon lange, aber noch nie hatte ich ihn so deutlich vor Augen. Er begegnete ihr früher häufiger – in den unmöglichsten Situationen: Er war ihr Chef, manchmal kam er in Form ihrer Mutter oder er stand plötzlich als dunkler Schatten hinter ihr, wenn sie auf dem Heimweg war. Der Schweinehund konnte aber auch in sie fahren, wenn sie unsicher war. Er trat dann nicht als Gestalt auf, sondern als eine Art innerer Konflikt. Er ist wandelbar. Er ist emotional. Er hat Angst. Er ist unsicher. Er ist voller Scham. Manchmal kam der Schweinehund auch als Wutmensch.

Heute, hier in dieser kleinen Geschichte soll der Schweinehund einen Namen haben. Er heißt Herbert. Und Herbert ist ein richtiges Ekel. Er lässt Tilli nervös werden. Sie ist aufgeregt, ihre Hände feucht und in ihrem Kopf entsteht Chaos. Herbert macht ihr Angst, er knurrt und zeigt seine Zähne. Er ist heute nicht nur ein Schweinehund, sondern ein richtiger Höllenhund.

Tilli klettert und Herbert steht oben und unten gleichzeitig, er hängt neben ihr und rüttelt an ihrem Seil. „Wie soll das gehen?“, denkt Tilli und weiß genau, sie schafft es niemals nach oben. Mit zitternden Knien kommt sie niemals diese Wand hoch. „Eine 6+, das ist unmöglich“, flüstert sie sich selber zu. Schaut Tilli nach oben bellt Herbert und macht ihr mit gefletschten Zähnen klar, dass sie es sowieso nicht schafft. Schaut sie nach unten lacht er gehässig und scharrt mit den Pfoten.

Am Liebsten möchte sie Herbert auch laut anknurren. Aber Tilli traut sich nicht, stattdessen knurrt er sie an und bellt noch lauter. Da erinnert sich Tilli daran, welche Angst sie als kleines Mädchen oft vor Hunden hatte und die Angst fährt in sie. Tilli pullert sich vor Schreck fast in die Hose.

Schweiß rennt ihren Rücken hinunter, kalt und nass. Zwischen ihren Brüsten klopft ihr Herz laut. „Hoffentlich hört oder riecht Herbert das nicht. Hunde spüren doch Angst.“ Tilli wird immer verzweifelter, sie muss sich konzentrieren, tief durchatmen, sie wird hier nicht von der Wand stürzen. „Nicht heute! NEIN!“, sagt sie deutlich.

Und dann entdeckt sie plötzlich etwas, das alles ändert. Etwas, dass den Fluss ihrer Körperflüssigkeiten augenblicklich stoppt. Herbert bellt und knurrt nicht einfach nur, nein, in seinen Augen sieht Tilli Angst. Herbert ruft auf einmal laut: „Hiiiiilfeeeee!!!“ und dann wird aus dem Schweinehund Herbert ein niedliches kleines Schoßhündchen. Herbert erkennt, dass auch Tilli nun merkt, was mit ihm los ist und fängt an zu winseln und fröhlich mit dem Schwanz zu wedeln.

Er schaut mit großen Augen von unten zu ihr hoch. „Wie er sich freut“, denkt Tilli, als sie ihn freundlich anguckt und lächelt. Tilli klettert schnell hinunter, sie muss zu ihm. Unten angekommen schließt sie ihn in die Arme, sie drückt ihn an sich, küsst ihn auf die feuchte Hundenase und krault ihm hinter den Ohren. Liebevoll streichelt Tilli Herbert über das wuschelige Köpfchen und sagt dann zu ihm: „Du bist sehr mutig. Du kannst alles schaffen, was du willst, vergiss das nicht. Warte, ich zeige es dir.“

Mutig geht Tilli erneut zum Fels und klettert nach oben. Ohne Angst, ohne Zweifel, sicher und Schritt für Schritt. Am Gipfel angekommen, schaut sie nach unten und Herbert winkt ihr fröhlich zu. Im nächsten Augenblick verschwindet Herbert im Gebüsch und zurück bleibt eine unendlich erleichterte und stolze Tilli.

Tillis Schweinehund hängt am Fels neben ihr, bis sie sich ihm stellt. Zeichnung: Formitilla

Tillis Schweinehund hängt am Fels neben ihr, bis sie sich ihm stellt. Zeichnung: Formitilla

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Lebendig statt leblos

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