Lebendig statt leblos

Um mein Arbeitsleben so zu gestalten, wie es mir guttut, musste ich ein paar Opfer bringen. Ich habe einen Job gekündigt, wo ich geschätzt wurde, der mich aber unglücklich machte. Ich plündere mein Erspartes, um meine Eigenständigkeit nicht zu verlieren. Ich begebe mich in eine gewisse Abhängigkeit zu meinem Mann, denn ich trage aktuell nicht zu unserem Lebensunterhalt bei.

Jede Woche hadere ich aufs Neue mit mir: Ist das in Ordnung? Darf ich zufrieden sein, obwohl ich nicht jeden Monat das fette Geld ran schaffe? Andererseits ohne Mann, Haus und Kind könnte ich sehr wohl für mich sorgen.

Ein Freund meines Mannes sagte letzten Sommer zu mir: „Mach dich doch nicht verrückt, so ist das, wenn man als Paar füreinander einsteht. Mal verdient der eine mehr, mal der andere. Ihr habt beschlossen, zusammen zu leben und da kümmert man sich umeinander. Es ist ok so.“ Es ist ok so. Das wiederholte ich mantramäßig immer wieder.

Und noch etwas ist in meinem Gedächtnis geblieben: „Wenn du als Mann etwas Neues anfangen würdest, würde kein Hahn danach krähen“, sagte eine Freundin neulich zu mir. „Da vertrauen alle darauf, dass es schon wird. Der Mann ist dann mutig, weil er etwas Neues wagt. Aber sobald du als Frau studiert hast und einmal viel verdienst, wird erwartet, dass du deine Möglichkeiten nutzt und Karriere machst. Wozu hast du schließlich studiert?“ Wozu habe ich studiert, um mich dann doch abhängig zu machen? Aber so ist es nicht. Jeder, der etwas Neues anfängt, lebt erst mal von den Reserven der vergangenen Jahre. Ich beschloss, dass ich maximal abhängig von mir selber bin. Ich bin stark, ich bin mutig, ich kann alles schaffen. Denn ich liebe, was ich tue.

An diese Worte musste ich in letzter Zeit häufig denken und dann beruhige ich mich wieder. Denn ich habe eigentlich aus genau einem Grund studiert, um zufrieden zu sein und das zu machen, was ich möchte. Und schon gar nicht, um mich rechtfertigen zu müssen für meine Lebensweise. Manchmal vergesse ich das und dann kehren die schlechten Gedanken immer wieder in mein Gehirn zurück und rauben mir Zeit und Nerv. Vor allem, weil es natürlich Menschen in meinem näheren Umfeld gibt, die sich Sprüche wie „na irgendwann musst du aber mal Geld damit verdienen“ nicht verkneifen können. Dabei lebe ich doch von meinem eigenen erwirtschafteten Geld!

Dann überlege ich doch wieder, mich ins Büro einsperren zu lassen, dort meine Zeit abzusitzen, um unglücklich aufs heimische Sofa zurückzukehren. Das Leben zu verfluchen, mir meinen Bauch mit der heißen Wärmflasche zu verbrennen, nur damit die Magenschmerzen erträglich sind. Mich von meiner schlechten Laune fressen lassen und von den kleinsten Kleinigkeiten genervt zu sein. Aber ich will nicht mehr abends im Bett heulen, weil ich morgens zur Arbeit muss.

Ich will lieber bis in die Nacht schreiben, lesen und am nächsten Tag Zeit haben, um meine Tochter in die Schule zu bringen. Ich will Zeit haben, um vor dem Start des Tages meine Yoga-Matte auszurollen und nicht gestresst von A nach B nach C nach A zurückrennen. Ich möchte mit einem guten Gefühl meine Care Arbeit leisten, ohne immerzu daran zu denken, was noch zu erledigen ist. Ich trinke Kaffee, wann ich Lust dazu habe und ich möchte mich nicht in eine vorgegebene Arbeitsstruktur pressen lassen. Ich kann das nicht. Es macht mich unglücklich. Immer schon.

Als Jugendliche wollte ich nie so werden wie meine Eltern, aber nur was ihr Arbeitsleben angeht. Völlig fertig vom Tag meckernd nach Hause kommen und abends um acht vor der Glotze einschlafen. Keine Zeit für nichts! Nicht mal, um darüber nachzudenken, warum sie nur aufs Wochenende warten. Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte ich immer.

Vor vier Jahren befand ich mich plötzlich auf demselben Weg und als ich das begriff, war es fast zu spät. Da wünschte ich mir schon auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall, nur um dann nicht hinzumüssen.

Ich zog die Notbremse, der Druck musste raus. Der Druck, unbedingt viel Geld zu verdienen. Ich ging zum Therapeuten, lernte Wolken gucken und tauschte das Hamsterrad gegen ein Springseil. Der Prozess war hart und steinig, mitunter tränenreich. Aber jetzt bin ich so zufrieden wie nie. Im letzten ZEIT-Magazin ist ein Interview mit dem Psychoanalytiker Thomas Auchter. Er spricht über psychische Gesundheit und erklärt:

“Wir Analytiker denken in Spannungsfeldern. Gesund ist, wer sich in jeder Lebensphase lebendig fühlt statt innerlich leblos. Gesund sein heißt, sich sein Leben lang weiterzuentwickeln, mit den sich zwangsläufig verändernden Umständen mitzuwachsen. Die Fähigkeit zu einer intimen Beziehung zu anderen ebenso zu besitzen wie die Fähigkeit, allein zu sein, statt zum Beispiel ständig zu klammern. Eine gute Verbindung zwischen Körper und Seele zu besitzen. Ich muss spielen können. Wer nur fixiert ist auf das, was ist, nie Fantasien entwickelt, nie kreativ ist, ist nicht gesund. Sich selber ganz annehmen zu können, mit allen guten und schlechten Anteilen, ist gesund.”

Ich habe seine Denkanstöße wie folgt für mich interpretiert: Ich fühle mich meistens sehr lebendig und ich bin nicht innerlich leblos. Ich entwickele mich ständig weiter und ich wachse mit, obwohl mich Corona gerade ein bisschen stagnieren lässt. Aber das wird wieder. Da bin ich sicher.

Ich führe mindestens eine intime Beziehung, fühle mich anderen sehr nahe und vertraut verbunden. Ich klammere mich manchmal ein bisschen an meiner Tochter. Ich denke aber, das liegt im Rahmen. Schließlich wird sie älter und nabelt sich immer mehr ab, da wird ein bisschen Wehmut erlaubt sein.

Meine Verbindung zwischen Körper und Seele ist meistens gut und wenn nicht, weiß ich, wie mein Körper reagiert und wie ich meine Seele wieder an die richtige Stelle rücke.

Ich kann spielen. Memory, Tanzen, Fußball – ich spiele alles. Meine Fantasie ist so weit entwickelt, dass ich manchmal nicht genau weiß, was wirklich war und was ich mir ausgedacht habe. Meinen Körper mit allen guten und schlechten Anteilen annehmen, fällt mir mitunter schwer, aber ich arbeite daran.

Ich kenne viele, die all diese Fragen anders beantworten würden, auch in meinem engsten Familien-und Bekanntenkreis. Und ich möchte alle dazu aufrufen, macht euch Gedanken. Lasst nicht zu, dass ihr krank werdet, vor allem jetzt in diesen Zeiten nicht.

Da fällt mir ein, dass ich heute noch nicht meine Yogamatte ausgerollt habe und meine Tochter gleich aus der Schule kommt. Ich werde mit ihr Hausaufgaben machen und dann Mittag kochen. Ganz klassisch die Muddi zu Hause. Aber die Muddi ist glücklich und geht ihren eigenen Weg. Morgen arbeite ich den ganzen Tag, da hat mein Mann frei.

Und dann bin ich mir plötzlich sicher: Es ist mehr als in Ordnung, dass ich gerade nicht jeden Monat neue Einnahmen habe, weil ich für das einstehe, was ich mache. Ich bin zufrieden, weil ich etwas Neues versuche. Weil ich den Mund aufmache und mich nicht unterkriegen lasse. Weil ich diskutiere und den Austausch suche. Weil ich meine Gedanken teile und weil ich mit Liebe, Hingabe und Leidenschaft mittags koche, während andere darauf warten, dass endlich der Tag vergeht.

Unsere Zeit ist begrenzt, ich will nicht still halten, bis es vorbei ist, was ich gerade mache. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Möglichkeiten nicht alle haben. Aber es gibt eindeutig zu viele unglückliche Menschen da draußen, die vergessen, wie gut wir es haben. Die vergessen, dass nur sie selber ihre Situation verbessern können. Ich möchte alles genießen. Ich gestalte mit und fühle mich lebendig.

Folgende Fragen hab ich mir gestellt:

  • Fühle ich mich eher lebendig oder leblos?

  • Entwickele ich mich weiter?

  • Habe ich eine gesunde intime Beziehung?

  • Klammere ich?

  • Halte ich an längst vergangenem fest?

  • Habe ich eine gute Verbindung zwischen Körper und Seele?

  • Kann ich spielen?

  • Habe ich Fantasie?

  • Kann ich meinen Körper mit allen guten und schlechten Anteilen annehmen?

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