Windrichtung
Ein Rausch über Herbststürme und die Berufung zum Schreiben.
Die Ideen tanzen vor meinen Augen. Sie tragen dünne Kleidchen oder kurze Hosen, fast immer offene Schuhe. Manchmal sind sie barfuß in Badebekleidung und laufen im Sand. Und es gibt die nackten Tage, natürlich. Sie haben meist eine menschliche Form und begegnen mir überall. Sie sprechen miteinander und sie sprechen mit mir. Manche schreien mich an und es gibt diese, die sich verabschieden wollen.
Als würden sie einen Staffelstab übergeben, dann rennen sie von mir weg. Ich stehe da mit dem Stab in der Hand und frage mich, wo die Idee hin ist.
Es gibt Tage, an denen treffe ich sie nochmal oder sie tauchen einfach auf, drehen sich nochmal um. Musik spült sie in meine Gedanken, aber irgendwann verblassen sie.
Mit meinen Rauschen ist es ähnlich. Ich habe so viele angefangene Texte in meinem Ordner, und jedes Mal wenn ich sie anschaue, will ich einen fortsetzen und mache es dann doch nicht.
Ich beginne zu tippen, schreibe eine halbe Seite. Das Dokument liegt in einigen Fällen bis zu drei Wochen geöffnet auf meinem Desktop. Aber es passiert nichts. An dieser Stelle ist auch dieser Rausch hier und ich frage mich, ob ich ihn nachher weiter schreibe. Bekommt dieser Text ein Ende?
Die vergangenen drei unbeendeten Rausche heißen: Zweifel, Leistung, Licht aus. Das sind natürlich nur die Namen der Dokumente, eine Überschrift entsteht beim Schreiben oder am Ende.
Es fühlt sich an, als würden diese Texte davon flattern. Im Moment des Schreibens bin ich ihnen ganz nahe, fühle alles und weiß genau, wie es klingen soll. Dann kommt etwas dazwischen, Kurse im kreativen Schreiben, ein Workshop – oder ein journalistischer Auftrag. Das sind die Schlimmsten, die killen alles.
Ich mag das, professionell auftreten, kluge Fragen stellen und dann alles in einen runden Text verpacken. Aber es hat eben nichts mit „meinem“ Schreiben zu tun. Es ist Auftragsarbeit. Das Gefühl für einen Rausch ist dann verloren gegangen. Als wäre der Abstand zu groß.
Ich werde jetzt aufstehen, zur Toilette gehen, meine Yogamatte ausrollen, einen Kaffee trinken. Dann startet mein Kurs-Tag. Erst die Abiturientinnen, die vom Schulalltag komplett desillusioniert sind. Und ich kann nicht behaupten, dass mich das total kalt lässt. Jedes Mal verlasse ich diese Oberschule und frage mich, was da passiert. Diese Jugendlichen freuen sich nicht auf das Leben. Ziemlich viel ist ziemlich dunkelgrau in ihren Köpfen.
Das färbt mitunter auch auf mich ab. Schon mehrfach wollte ich diesen Kurs kündigen, aber ich hänge irgendwie an diesen jungen Menschen, und Geld verdienen ist ja ab und an auch nicht verkehrt.
Anschließend fahre ich zu den kleinen Kreativen in die Grundschule. Sie sind zwischen zehn und zwölf Jahren alt. Und sie erinnern mich so sehr an mich selber. An diese Fantasien und Geschichten, die in meinem Kopf umher schwirrten. Die Höhlen und Tiere, die Strände und Sonnenuntergänge, die Berge und Wälder, in denen die kleine Helen die größten Abenteuer erlebte.
Es fällt mir jetzt immer schwerer, solche leichten, kleine Geschichten zu schreiben. Ich bin sehr dankbar für diesen kindlichen Blick auf Literatur. Zu Beginn eines jeden neues Kurses, immer zum Halbjahr, erzählt mir mindestens ein Kind: „Ich habe schon mal ein Buch geschrieben.“ Oder sie schreiben gerade ein Buch. Dann berichten sie mit strahlenden Augen und voller Stolz, wie viele Seiten sie schon haben.
Ich nicke, lächele und denke, bald werden sie aufhören zu schreiben. Dann müssen sie analysieren und interpretieren, schreiben, was der Lehrplan vorgibt.
Und was ich dann auch weiß: Sie werden mit mir die lebendigsten Geschichten schreiben; sie werden ihre Fantasie zum Leben erwecken. Nicht selten werde ich ganz sentimental, weil ich diesen kindlichen Blick inzwischen sehr vermisse.
Schreiben sei eine Berufung, sagte ein Lektor kürzlich zu mir. Und dass ich die nicht mehr loswerde. Es gibt Tage, da vergesse ich das.
Struktur, Pläne, Inhalte – alles muss abgestimmt sein, alles muss zusammen passen, nachvollziehbar, stilvoll, gut lesbar. Mein Kopf ist voll damit – und die tanzenden Ideen verfangen sich im Herbstlaub.
Dann denke ich: Hoffentlich weht der Wind in meine Richtung – leicht und lebendig am besten.