Entblößte Gefühle

Ein Rausch über Worte, Bewegungen und Musik, die zusammen unschlagbar sind.

Die Beschreibung des Stücks versetzte mich in helle Aufregung. Sie versprach vollständige emotionale Öffnung. Und ich war bereit mich zu entblößen. Ich wollte unbedingt schon in die Einführungsveranstaltung, wollte alles verstehen, die Hintergründe erkennen und begreifen, wie der Choreograph es schaffen will, das Publikum emotional zu öffnen.

In unserem Podcast Klappe&Buch sprachen meine Kollegin Alva und ich kürzlich auch genau darüber. Natürlich eher im Bezug auf Bücher. Wir fragten uns, inwiefern wir uns als Autorinnen nackig machen müssen. Welche Worte sollten wir wählen, damit unsere Lesenden fühlen, was wir fühlen.
Und ich frage mich: Sind meine Texte gefühlvoll genug? Kannst du nachvollziehen, was in mir ist?
Wieviel bin ich bereit von mir zu erzählen – für meine Texte. Im Stück „Minus 16“ des israelischen Choreographen Ohad Naharin, aufgeführt vom Berliner Staatsballett, sehen die Tänzerinnen und Tänzer auch fast nackt aus. Ihre Kostüme schmiegen sich wie eine zweite Haut an ihre Körper. Sie wirken dadurch nicht nur verletzlich, sondern gleichzeitig auch stark. Mit offenem Mund verfolgte ich das Geschehen auf der Bühne. Staunend. Bewegt. Ich war entblößt, emotional und gefühlt auch physisch, als hätte ich meine Kleidung abgestreift.
Ich wollte alles fühlen und tat es.

Wut über die kurzen, abgehackten Schritte. Hingabe wegen der fließenden, wellenartigen Bewegungen. Leidenschaft, weil die Berührungen umfassend und zart zugleich waren. Freude, weil sie sprangen und beinahe flogen wie Vögel im Wind. Ich dachte: Das will ich auch bewirken. Aber ich erreiche es anders. Ich benutze Worte; ich erzähle Geschichten. Das war schon immer so.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das erste Mal in mein Tagebuch schrieb. Ich hatte ein besonderes Buch ausgewählt. Es war blau mit leuchtenden Sternen, an der Seite zwei Ösen, um ein Schloss anzubringen. Ich war zehn Jahre alt und wollte unbedingt alles aufschreiben, was ich erlebte. Ziemlich bald verlor ich den Schlüssel und mein Papa musste mit einer Kneifzange die Ösen aufbiegen. Den Schmerz des Buches fühle ich noch heute.
Voller Ehrfurcht beschrieb ich in den folgenden Monaten Seite für Seite. Mein Tagebuch bekam sogar einen richtigen Namen. Ich sammelte erst nur die Erlebnisse des Tages, was mir passiert war, wer mit begegnete und warum ich traurig oder glücklich war. Vieles drehte sich um Schule, meine Eltern – und später um Liebe.
Ich werde den Schreck nie vergessen, als ich während meines ersten Kusses aus dem Augenwinkel meine Mama entdeckte. Und den Satz, des Jungen: „Das ist deine Mutter, die steht da schon eine Weile.“ Ich schubste in von mir, er fiel fast rückwärts, meine Mama winkte und lachte, – und ich schämte mich.

Oder als mir das Leben aus den Fingern zu gleiten schien, als sich auf dem einzigen Schwangerschaftstest, den ich je gemacht habe, ein zweiter Streifen zeigte.
Ich schrieb unentwegt in verschiedenste Bücher. Eigens für meine Tochter hatte ich in den ersten Jahren ein extra Notizbuch. Sie beginnen an dem Tag nach meinem ersten Besuch bei meiner Frauenärztin. Da war der heutige Teenager nur ein bebender Zellhaufen. Und die Erinnerung an meinen Opa, der mitten in seinem Garten ins Nichts griff, – und wie ich anschließend weinend mit dem Notarzt telefonierte. All das habe ich nicht allein erlebt. All das sind Teile von mir, von dir und von uns.
Geschichten sind das, was uns verbindet, was uns im Kern zusammenhält. Sie erinnern uns daran, was einmal war und wie wir etwas erlebt haben. Geschichten sind das, was mich öffnet – und womit ich dich öffnen möchte.

An diesem Abend in der Deutschen Oper öffnete mich ein Tanzstück und ich war berührt bis tief ins Innere, was Musik und Bewegung auslösen können. Und dabei war alles so leicht und lebendig.

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Windrichtung